Wie funktioniert Schreiben? In dieser Artikelreihe stelle ich Ihnen ein theoretisches Modell des Schreibens vor: das kognitive Schreibprozessmodell von Flower und Hayes. Dieses besteht aus verschiedenen Elementen. Eines davon ist die Aufgaben-Umwelt.
Flower und Hayes11981, S. 369f. bildeten das kognitive Schreibprozessmodell. Demnach ist Schreiben ein dynamischer Prozess, der aus drei Teilen besteht:
- Aufgabenumwelt
- Langzeitgedächtnis der Schreibenden
- Schreibprozess
In diesem Artikel werde ich die erste Komponente des kognitiven Schreibprozessmodells beschreiben:
Aufgabenumwelt
Bei der Aufgabenumwelt handelt es sich um alles, was außerhalb des Schreibenden und des Schreibprozesses liegt. Die Aufgaben-Umwelt ist aber nicht von beidem isoliert. Sie steht mit beidem in dynamischen Wechselwirkungen. Also wirkt sie sowohl auf Sie selbst als auch auf Ihren Text direkt ein und umgekehrt. Die Aufgaben-Umwelt besteht aus zwei Komponenten:
- dem rhetorischen Problem
- dem wachsenden Text
In jeder dieser beiden Komponenten gibt es eine jeweils eine Falle, in die Sie beim Schreiben tappen können.
Das rhetorische Problem
Das Schreiben ist nur selten ein Selbstzweck. Nur die wenigsten schreiben aus Spaß an der Freude. Oft muss Ihr Text einen bestimmten Zweck erfüllen. Er muss ein bestimmtes Thema verständlich vermitteln. Oder er muss andere dazu veranlassen, ein bestimmtes Produkt zu kaufen. Oder Sie möchten mit Ihrem Text andere von einer bestimmten Meinung überzeugen. Kurz: Ihr Text muss ein rhetorisches Problem lösen.
Das rhetorische Problem ist relativ komplex: Es besteht aus der rhetorischen Situation an sich, also dem Zweck, zu dem Sie den Text schreiben. Es besteht aber auch aus der Zielgruppe, für die Sie ihn schreiben. Wem wollen Sie was vermitteln? Wer soll Ihr Produkt kaufen? Darüber hinaus besteht das rhetorische Problem aber auch aus Ihren eigenen Zielen. Schreiben Sie, um eine gute Note zu erhalten oder um lediglich das Modul zu bestehen? Schreiben Sie, damit Sie sich selbst und Ihre Zielgruppe Sie für einen gebildeten Menschen halten? Zu guter Letzt besteht das rhetorische Problem auch aus der Dringlichkeit, mit der Sie den Text vollenden sollen. Eine Hausarbeit, die Sie in einem Monat abgeben sollen, stellt Sie vor ein anderes rhetorisches Problem als eine, die Sie übermorgen abgeben müssen.
Geübte Schreibende sind in der Lage, dieses Problem zu lösen. Und zwar, indem sie sich Ziele setzen. Diese Ziele können sie in sinnvolle Teilziele gliedern. Je sorgfältiger, konkreter und realistischer diese Ziele sind desto besser. Bevor Sie mit dem Schreiben beginnen, sollten Sie sich also zunächst einen Überblick über Ihr rhetorisches Problem verschaffen. Stellen Sie sich folgende Fragen:
- Worüber muss ich schreiben?
- Wer ist meine Zielgruppe?
- Wann muss ich fertig sein?
Dann können Sie sorgfältig planen. Planen ist gut. Aber wenn Sie planen (und vor allem, wenn Sie gerne planen), können Sie in eine Falle tappen:
1. Falle: Plan-Prokrastination
Planen ist kein Ersatz für das eigentliche Handeln. Wenn Sie versuchen, alles im Geiste durchzuspielen und das rhetorische Problem in all seinen Facetten perfekt zu erfassen, dann können Sie bei aller Planung den eigentlichen Schreibprozess völlig vergessen. Und: Es kann passieren, dass Sie merken, dass Planen Sie davon abhält, tatsächlich zu schreiben. Das kann Ihnen sogar sehr willkommen sein. Wenn Ihre Mitmenschen Sie fragen, wie weit Sie schon mit dem Schreiben sind, antworten Sie: „Ich habe noch nicht angefangen, aber bald habe ich den perfekten Plan und alles schreibt sich von alleine“. Und das zwei Tage vor der Abgabe…
Ein Ausweg
Der Schreibprozess ist keine Planwirtschaft. Sie brauchen keinen 10-Jahres-Plan. Halten Sie Ihren Plan und Ihre Ziele flexibel. Verlieren Sie dabei aber nie das Wesentliche aus dem Blick: Ihr rhetorisches Problem.
Der wachsende Text
Das Ziel des Schreibprozesses ist ein kohärenter, in sich schlüssiger Text. Deshalb müssen Sie alles, was Sie schreiben, an das anpassen, was Sie bereits geschrieben haben. Schließlich muss Ihr Text einen roten Faden haben, um das rhetorische Problem zu lösen. Und da lauert auch schon die nächste Falle:
2. Falle: Die Überarbeitungs-Eskalation
Dabei passt das, was Sie geschrieben haben, nicht mehr zu dem, was Sie bereits geschrieben haben. Das hat zur Folge, dass etwas überarbeitet werden muss: entweder das, was Sie bereits geschrieben haben oder die Ideen, die Sie noch niederschreiben möchten. Das Ergebnis kann sein, dass Sie irgendwann nicht mehr weiterkommen und ständig das überarbeiten, was Sie bereits geschrieben haben. Und irgendwann eskaliert es: Sie geben auf, klappen den Laptop zu und betrinken sich.
Ein Ausweg
Schreiben Sie in Versionen. Sehen Sie das, was Sie gerade schreiben, nur als Rohfassung. Diese Rohfassung werden Sie später überarbeiten. Sie schreiben Ihre Rohfassung vor allem, um den inneren Zusammenhang Ihres Textes selbst zu erkennen.2Kruse, 2007, S. 156 Wenn Sie mit Ihrer Rohfassung fertig sind, überarbeiten Sie Ihren Text und passen ihn an seine Zielgruppe an. Dann erst lassen Sie Ihren Text von Ihrer Oma, Ihrer Mitbewohnerin oder Ihrem Lektor lesen.
Nur Sie selbst werden jemals die Rohfassung Ihres Textes lesen!
Fazit: Das Schreib-Drama
Die Aufgaben-Umwelt macht, so denken Flower und Hayes,31981 nur einen Bruchteil dessen aus, was sie das „Schreib-Drama“ nennen. Und dieser Teil hat es bereits in sich. Er wirft Fragen auf: Wie schaffen es Schreibende, ihren wachsenden Text und ihre neuen Ideen in Einklang zu bringen? Wie flexibel sind ihre Schreibpläne?
Um die letzte Frage zu beantworten, müssen wir uns mit einer weiteren Komponente des kognitiven Schreibprozess beschäftigen: Ihrem Langzeitgedächtnis. Das enthält nämlich, neben Ihrem fachlichen Wissen, das Sie niederschreiben möchten, auch Ihr individuelles Wissen über Schreibpläne und –strategien.
Darum wird es im dritten Teil gehen.
Reflexionsfragen
- Erinnern Sie sich an ein zurückliegendes Schreibprojekt. Ist es Ihnen gelungen, das rhetorische Problem zu lösen?
- Sind Sie schon in Planungs-Prokrastination bzw. Überarbeitungs-Eskalation geraten? Wenn ja, sind Sie entkommen oder gescheitert?
- Wie schaffen Sie es, Ihren wachsenden Text und Ihre neuen Ideen in Einklang zu bringen?
Literatur
Flower, L., & Hayes, J. R. (1981). A cognitive process theory of writing. College Composition and Communication, 32(4), 365-387.
Kruse, O. (2007). Keine Angst vor dem leeren Blatt. Frankfurt/M.: Campus.